Fabrik SALZMANN & COMP. Kassel / Pressearchiv 1920 - 1929
Reproduktionen: Erhard J. Scherpf, Industrie- & Werbefotografie, Kassel


Pos1


Casseler Tagesblatt; 31.Oktober 1926

Casseler Spaziergänge

Ein halbes Jahrhundert am Webstuhl der Zeit.

Diesmal wollen wir einmal unseren Spaziergang nach Cassel NO. machen. Halbwegs zwischen Cassel und dem aus dem siebenjährigen Krieg berühmt gewordenen Dorf Sandershausen liegt das Werk und die Siedlung der Firma Salzmann u. Co., die heute auf 50 Jahre ihres Bestehens und einen ungeahnten Aufschwung zurück blicken kann. Ein Stück der Entwicklung und Aufwärtsbewegung unseres Gemeinwesens spiegelt sich in diesem Werk, das den Namen Cassels ebenso in aller Welt bekannt gemacht hat, wie unsere Lokomotiven und Waggons in der Vorkriegszeit.

Die Geschichte der Firma Salzmann und Co. ist zugleich die Lebensgeschichte ihres Gründers, des Kommerzienrats Heinrich Salzmann. Er war, wie es in einem Nachruf auf diesen faustischen Mensch, der "immer strebend sich bemühr" hieß: "aus dem Holze geschnitzt, aus dem heute Großindustrielle allein gebildet werden können. Nicht dem landläufig so genannten "blinden Glücke", nicht besonders stark entwickeltem Erwerbssinn, nicht zufällig erfolgreichen Spekulationen verdankt die Firma Salzmann und Comp. ihr Weltgeschäft und die Blüte und riesenhafte Ausdehnung ihrer Betriebe. Die verdankt sie einzig bei steter sich immer gleich bleibender Arbeitsfreudigkeit der eisernen Willenskraft und zähen Ausdauer in der Ausführung und dem Durchhalten der stets zielbewussten Pläne ihres vormaligen Inhabers.

Die Arbeit war Heinrich Salzmanns Lebenselement. Sie war ihm ein Genuss, worüber er Essen und Trinken, ja sogar die eigenen Gesundheit vergessen konnte. Aber nur diese schier gewaltige Arbeitslust und Arbeitskraft ermöglichte ihm das, wobei unter ähnlichen Verhältnissen ein Kollegium tätig ist, allein zu bewältigen."

Aus dem kleinen Spangenberger Pastorenhaus, dessen er sich später immer wieder gern erinnerte, ist dieser Casseler Industriekapitän hervorgegangen. Der schöne Liebenbachbrunnen in seiner Vaterstadt zeugt heute noch von der Anhänglichkeit und Heimatliebe der Familie Salzmann. Das Emporblühen seines Werkes hat Heinrich Salzmann noch erlebt, die traurige Gewissheit des Zusammenbruchs der deutschen Wirtschaft infolge des Ausganges des Weltkrieges blieb ihm erspart.

Als dieser Mann am 3. November 1915, mitten in den Wirren des Weltkrieges, in den Sielen starb - der Tod ereilte ihn in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeitsstätte - war es gewiss ein eigenartiges Zusammentreffen dass in dem selben Jahr am 5. Mai der intellektuelle Begründer der Casseler Webindustrie, der geheime Kommerzienrat Siegmund Aschrott, seinen bedeutendsten Schüler und Nacheiferer im Tode vorausgegangen war. Sehr sinnig schrieb damals die Zeitschrift "Hessenland" an der Bahre des erst 65 jährigen Heinrich Salzmann:

Wer den trotz angegriffener Gesundheit rüstigen Mann - der sich abgesehen von dem Schnee auf seinem Haupte, in den letzten 20 Jahren wenig verändert hatte - in der Elektrischen oder in seinem Wagen von seiner Wohnung am Weinberge zu seinem Geschäfte in Bettenhausen eilen sah, der hätte nimmer geglaubt, dass dem unermüdlichen sobald schon das Weberschifflein aus der Hand genommen würde. Aber Atropos, die Unabwendbare, schnitt den von der Spindel der Spinnerin Kloto kommenden Faden plötzlich durch - unbekümmert darum ob der weltbekannte "Webermeister" Heinrich Salzmann das Stück, an dem er arbeitete, schon zu ende gewoben hatte oder nicht. -

Das Erbe dieses Mannes, der sich zu Lebzeiten mit sicherem Blick die rechten Männer als Mitarbeiter auszuwählen wusste, ist erhalten geblieben und wird hoffentlich in kommenden Zeiten noch gemehrt werden. Das Gedächniss Heinrich Salzmanns wird von seinen Erben und Nachfolgern am besten dadurch wachgehalten, das sie in seim Sinn weiterarbeiten im Andenken an den Bürger unserer Stadt, von dem mit vollen Rechte das Wort eines gelten konnte:

Nennt man die besten Namen, wird auch der Seine genannt.

Dass der Begründer der Jubiläumsfirma und auch seine Nachfolger nicht nur das Bewusstsein der Verantwortung für Gesundheit und Wohlergehen ihrer Vaterstadt, sondern auch für die soziale Not der Stadtgemeinde, in der sie leben, stets bewiesen haben, davon zeugt die vorbildliche Wohnungsfürsorge der Firma. Wir sehen ganz von der Bautätigkeit in anderen Städten, wo sich Niederlassungen von Salzmanns und Co. befinden, wie z.B. in Melsungen, ab, sondern wollen uns an dieser Stelle nur mit der Kasseler Wohnungsfürsorge beschäftigen. Ein großer Gebäudekomplex und eine Siedlung tragen den Namen des Begründers der Firma. Es ist dies der Salzmannshof, unser früheres altes Landkrankenhaus, und die Gartenstadt Salzmannshausen, deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

Nach der Niederlassung der Firma in Cassel, Bettenhausen wurden schon nahe der Fabrik Werkwohnungen bescheidenen Umfangs errichtet. Die Ansiedlungsbestrebungen innerhalb der Werkgemeinschaft selbst erfuhren dann eine wesentliche Förderung durch den Erwerb des vollmaligen Landkrankenhauses im Jahre 1899. In unmittelbarer Nachbarschaft von Werk 1, zwischen der Leipziger und der Sandershäuserstraße gelegten, umfasste diese Anlage eine Fläche von etwa 35 000 Quadratmeter.







Im Hauptgebäude wurden nach den Plänen der Casseler Architekten Gerlt und Tivendell 25 Wohnungen verschiedner große eingerichtet. Die Fassade des alten Casseler Spitals wurde dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend verschönert, jahrelang wohnten hier Beamte, Meister und Angestellte des Werks, bis die zunehmende Entwicklung der Fabrik gebieterisch weiteres Fortschreiten auf dem Wege der Wohnungsbeschaffung und den Erwerb geeigneter Grundstücke erforderte.
Diese fanden sich in günstiger Lage an der Sandershäuserstraße, etwa in der Mitte zwischen dem Werk und dem Dorfe Sandershausen, an welcher Stelle zwischen Ankauf und Austausch allmählich ein Gelände von etwa 165 000 Quadratmeter Größe in den Besitz der Firma gelangte, ein Gebiet, das heute seinen Namen "Gartenstadt Salzmannshausen"alle Ehre macht.
In dem Jahr 1903 bis 1908 wurde das Gebäude durch Anlage von Straßen mit den erforderlichen Versorgungsleitungen aufgeschlossen. Hierbei wurden die Straßen auf Vorschlag der Casseler Magistrates nach den Orten der einzelnen Werke und nach den Geburtsorten Heinrich Salzmanns und seiner Gattin benannt, so die Spangenberger, Rauschenberger, Einbecker, Oederaner und Salzmannsstraße.
Bei der Anlage konnten bereits, wie es in der Denkschrift: "50 Jahre Wohnungsführsorge "heißt, neuzeitliche städtebauliche Grundsätze berücksichtigt werden. Als erste Bauten an dieser Stelle wurden im Jahre 1903 acht Häuser an der Huthstaße errichtet und zwar als Eigentum von Werkangehörigen. Noch hatte sich das Kleinhaus, das Ein- und Zweifamilienhaus nicht durchgesetzt, so dass man auch hier trotz des reichlichen und billigen Baugeländes Mehrwohnungshäuser für zweckmäßig hielt.
Bald ging man aber auch in Salzmannshausen zum Kleinhausbau über und gründete im Jahre 1910 die Cassel Bettenhäuser Gemeinnützige Baugesellschaft G.m.b.H. mit einem Stammkapital von 30 000 Mark, jetzt wurde zum erstenmal auch nach außen hin bewiesen, wie sehr der Firma die Wohnungsfürsorge am Herzen lag. Die ersten Einfamilienhäuser entstanden, sie zeigten einfache Grundrisse.
Wesentlich vollkommender sind die Grundrisse der in den Jahren 1912, 1913 und 1914 erbauten Ein- und Zweifamilienhäuser. Hier gruppieren sich Zimmer und Küche um eine kleine, z.T. behaglich als Wohnraum gestaltete Diele, und das Badezimmer wird zum unentbehrlichen Zubehör. Der Krieg bot naturgemäß der aufblühenden Gartenstadt ebenfalls Einhalt.

Nach dem Tod Heinrich Salzmanns setzte aber die Witwe, Frau Minna Salzmann, unverdrossen das Werk ihre Gatten nach den besten Kräften fort und es entstanden im Laufe der Jahre neue Wohnstätten.
Ihre ständig zunehmende Ausdehnung und die entfernte Lage von den Wirtschaftszentren erforderte jedoch immer gebieterischer auch die Einrichtung von Versorgungsstätten für die Dinge des täglichen Bedarfes. So entstanden im Jahre 1923 an der Ecke der Sandershäuser und Salzmannsstraße nach den Plänen der Architekten Mensching und Spier das Bäckereigebäude ein dreigeschössiger Bau mit Dampfbäckerei, Verkaufsräumen für Bäckwaren und Lebensmittel nebst zugehörigen Lagerräumen und zehn Zwei- bis Sechszimmerwohnungen mit allem Zubehör.
Für die Jahre 1923/24 war der Bau eines weiteren Geschäftshauses zur Unterbringung einer Metzgerei mit Gastwirtschaft und eines Saalbaues geplant; die Ausführung musste jedoch aus wirtschaftlichen Gründen zurückgestellt werden. An seiner Stelle wurden, um der immer drückender werdenden Wohnungsnot zu steuern im Jahre 1925 fünf weiter Dreifamilienhäuser, zwei ebensolche an der Ecke der Salzmann- und Sandershäuser Straße und acht an der Ecke Sandershäuser und Rauschenberger Straße errichtet.

Wenn man den heutigen Stand der Gartenstadt Salzmannshausen mit ihren etwa 1500 Einwohnern überblickt, so muss man rückhaltlos anerkennen, dass hier, von den vier Kriegsjahren abgesehen, in den 16 Jahren des Bestehens der Cassel, Bettenhäusener Gemeinnützigen Baugesellschaft in Anbetracht der gerade in den Hauptentwicklungsjahren bestehenden finanziellen und technischen Schwierigkeiten eine hervorragende Leistung vollbracht worden ist. Die Gesellschaft hat dadurch nicht nur sich selbst, der Firma Salzmann und der Stadt Cassel größte Dienste geleistet, sondern auch zugleich deutscher Tatkraft, deutschem Fleiß und deutschem Können ein ehrenvolles Zeugnis abgelegt.
Zu bedauern ist, dass die Siedlung auch heute noch nicht an das Straßenbahnnetz der Stadt Cassel angeschlossen ist.

Alle dieser Taten sozialer und wirtschaftlicher Fürsorge beruhen aber auf dem Lebenswerk des Gründers der Firma, die heute stolz auf das erste halbe Säkulum ihrer Arbeit zurückblicken kann. Vom Wirken und Schaffen Heinrich Salzmanns gilt wiederum das faustische Wort:

Es kann die Spur von seinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen.